Evelyn Finger: Was nützt die Freiheit in Gedanken?
Herbst 1989 am berühmten Literaturinstitut Johannes R. Becher in Leipzig: Man las, man schrieb und fühlte sich schon lange frei. Ein skeptischer Bick zurück.
[...] Die Parteiführung hatte die Waffen gestreckt und sicherte nur noch die äußeren Grenzen. Die nachgelassenen Akten des Instituts, die heute im sächsischen Staatsarchiv lagern, dokumentieren den ungleichmäßigen Verlauf dieser innerbetrieblichen Demokratisierung.
[...]
Die Wahrheit auch über die Literatur der DDR, das zeigt sich hier nochmals exemplarisch, liegt immer dazwischen. Halb hier, halb dort, halb ganz steht als Kapitelüberschrift in der Diplomarbeit des Studenten Jürgen Frühauf vom März 1990. Und die Mappe des anarchistischen Autorenkollektivs Schicker/Höfer/Sydoruk trägt das Motto zwischen mir nichts und dir nichts und enthält das Gedicht Untergang von meinem Balkon aus: "die berge, zwei polizisten, / führn die sonne ab,/ am himmel hängt ihr blutiger schal…" Einfacher ist Literatur nicht zu haben. Natürlich, man konnte sich auch in eine Reportageserie zum Thema Erzgebirgische Volkskunst flüchten oder in einen historischen Roman über den Böhmerwald. Das alles kommt bei den werdenden Diplomschriftstellern des Wendematrikels vor, das Leise und Laute, das Betuliche und das Angriffslustige.
[...]die Welt der Literatur ist eben doch nicht ganz identisch mit der Welt. Letztere hat sich, vom Standpunkt der Dichter aus betrachtet (also im Ganzen und über Ostdeutschland hinaus), seit 1989 nur wenig gebessert. Es kommt also weiterhin darauf an, sie kritisch zu interpretieren.
In: Die Zeit, 18.11.2004